Augenhöhe ist keine Frage der Körpergrösse

Augenhöhe ist keine Frage der Körpergrösse

«Wir begeg­nen uns auf Augen­höhe!» Diese Aus­sage hat mein Part­ner ganz am Anfang unser­er Beziehung ein­mal gemacht, als er jeman­dem von uns erzählt hat. Ich kann mich gut an diesen Moment erin­nern. Erst habe ich ges­tutzt… Augen­höhe? Ist das nicht das Nor­male, das Zeichen von bei­der­seit­iger Wertschätzung? Muss sich jemand von uns im über­tra­ge­nen Sinn streck­en oder bück­en, um genau diese Augen­höhe zu erre­ichen? Erst später habe ich ver­standen, was er mit dieser Aus­sage gemeint hat. Augen­höhe vere­int Offen­heit, Respekt, Empathie, aber auch Tol­er­anz und Autonomie.

Auf Augen­höhe zu kom­mu­nizieren hat nichts mit hohen Schuhen oder ein­er buck­li­gen Hal­tung zu tun. Es wider­spiegelt eine innere Hal­tung, es verkör­pert den eige­nen Entschluss, wie man durchs Leben gehen möchte und wie man mit Mit­men­schen inter­agiert. Augen­höhe verkör­pert ein Wertekon­strukt, das man verin­ner­lichen und — je nach dem — erler­nen oder wieder erler­nen muss. Dass man sich beim Kom­mu­nizieren dem Gegenüber anpasst, ihn vielle­icht sog­ar (unbe­wusst) spiegelt, ist nor­males men­schlich­es und antrainiertes Sozialver­hal­ten. Bei der Augen­höhe kommt jedoch ein weit­eres auss­chlaggeben­des Attrib­ut dazu: die Respek­tierung der Men­schen­würde. Und die ist wed­er abhängig vom Bil­dungs­stand, vom Broter­werb oder von der Nation­al­ität, noch vom Alter, vom Geschlecht oder von möglichen Gebrechen. Die Men­schen­würde ist ein Grun­drecht eines Jeden. 

Die ver­gan­genen Monate der Iso­la­tion und teil­weise auch der Vere­in­samung haben uns von Kol­le­gen, Fre­un­den und Fam­i­lie getren­nt und unsere soziale Inter­ak­tion auf ein Min­i­mum beschränkt. Wie wird es sein, wenn wir wieder Men­schen jeglich­er Couleur tre­f­fen, wenn wir uns wieder mit­teilen und sozial eingliedern dür­fen? Kön­nen wir die Sichtweise des anderen noch ver­ste­hen? Kön­nen wir die Kör­per­sprache noch lesen und gelingt es uns immer noch, ehrlich­es Inter­esse für das Gegenüber zu entwick­eln und uns sel­ber zu öff­nen? Ich bin mir nicht sich­er, ob sich das von heute auf mor­gen wieder ein­spie­len wird.

Ger­ade jet­zt, in der Post-Covid-Aera, kön­nen wir ver­suchen, uns neu zu kalib­ri­eren und ver­mehrt darauf zu acht­en, unseren Mit­men­schen auf Augen­höhe zu begeg­nen und ihnen die Wertschätzung ent­ge­gen­zubrin­gen, die jed­er von uns ver­di­ent. Nicht immer ist es Ger­ingschätzung, wenn wir die Augen­höhe vergessen. Oft sind es die kleinen Momente der Acht­losigkeit oder ganz ein­fach Stress­si­t­u­a­tio­nen, die dazu führen, dass wir dem Gegenüber nicht eben­bür­tig begeg­nen. Manch­mal ist es aber doch der fehlende Anstand oder der Hochmut. Mein ital­ienis­ch­er Vater, der gut Deutsch spricht, hat sich immer geärg­ert, wenn er als Schrein­er auf Mon­tage war und die Kund­schaft ange­fan­gen hat zu rade­brechen, oder noch schlim­mer, wenn sie gestikuliert statt gere­det hat. So als wäre mein Vater schw­er von Begriff. Nur, weil er einen ital­ienis­chen Akzent hat und ein Handw­erk­er ist, muss man nicht aufs Kon­jugieren verzicht­en oder die Satzstel­lung verän­dern. Das Ver­lassen der Augen­höhe war in diesen Fällen von den Kun­den bewusst gewählt als Zeichen der Posi­tion. Solche Spielchen geschehen lei­der oft und zeu­gen nicht unbe­d­ingt von charak­ter­lich­er Grösse oder Tol­er­anz. Sie sind unnötig und dienen auss­chliesslich dem Ego des Senders.

Die Gle­ichung lässt sich sim­pel auf­stellen: Stimmt die Augen­höhe nicht, stimmt das Gle­ichgewicht nicht. Jemand ist unter­legen, der andere über­legen. Es entste­ht ein Macht­ge­füge, daraus eine Dis­tanz und fol­glich eine dro­hende Schieflage. Und schlussendlich ver­lieren bei­de Seit­en! Egal­itär begrün­dete Rechte beanspruchen wir gerne für uns sel­ber, aber wie ver­hält es sich damit im All­t­ag? Begeg­nen wir unseren Mit­men­schen wirk­lich gle­ich­berechtigt? Acht­en wir bewusst auf die Augenhöhe?

Ich möchte Sie dazu ermuti­gen, mit noch mehr Offen­heit, Aufrichtigkeit und mit viel Ver­ständ­nis für die Unter­schiedlichkeit auf Ihre Mit­men­schen zuzuge­hen, wenn Sie aus dem Coro­na-Lock­down erwacht sind, sei es bei der Arbeit, in der Fam­i­lie oder ganz ein­fach, wenn Sie im Lädeli um die Ecke beim Einkaufen jeman­dem begeg­nen. Die Zeit, in der wir uns jet­zt bewe­gen, hat viel Poten­zial für einen Neustart. Wir kön­nen ein Zeichen set­zen und etwas verän­dern. Wir kön­nen uns sel­ber dank Augen­höhe zum Höhen­flug ver­helfen und vom acht­samen Miteinan­der gewin­nen. Habe ich Sie inspiriert?

Autoren:

Mon­i­ca Ter­rag­ni, Vor­standsmit­glied RG Basel