Rezension

Mit Hannah Arendt in den Ferien

Wunderbar eignen sich Ferien, ein längeres und anspruchsvolleres Buch zu lesen, den eigenen Gedanken nachzuhängen und am eigenen Lebensbuch zu schreiben. Hildegard Kellers erster Roman über Hannah Arendt (1906-1975) regt all dies und noch viel mehr an.

Deren Erinnerungen, eloquent geschrieben von einer stupenden Kennerin ihres Lebens, gewinnen durch die aktuellen Entwicklungen in Europa eine besondere und beklemmende Aktualität. Unbedingt lesenswert!

Schönste Lebenspläne durchkreuzt

Hannah Arendt war eine brillante Publizistin, eine scharfsinnige Philosophin und noch viel mehr: Flüchtling, grossartige Rednerin und eine hartnäckige Wahrheitssuchende und -verteidigerin, die sich furchtlos zu Wort meldete und politische Debatten über Jahre und auf zwei Kontinenten mit prägte. Eingebettet in ihre letzten Ferien in Tegna (Tessin), knapp ein halbes Jahr vor ihrem Tod, dürfen wir an den Erinnerungen Hannah Arendts teilhaben, die ohne Hast und ohne Zorn auf Stationen ihres Lebens zurückblickt.

Tatsächlich habe ich den Roman über Hannah Arendt in den Sommerferien 2021 gelesen. Die Lektüre hallt bis heute nach, wie das bei guten Büchern so ist. Zum ersten die oft nüchterne, distanzierte und doch packende Beschreibung (es sind ja die Erinnerungen der altersmüden Hannah Arendt!) eines Lebens, das der Lauf der Zeit mit zwei Weltkriegen mehrfach existenziell bedroht hat. Als Jüdin, als Intellektuelle und als Frau wurden ihre schönsten Lebensentwürfe immer wieder über den Haufen geworfen. 

Ein Buch erschüttert Welt und Weltbild

Wer wie der Schreibende erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren wurde, ist sich dieser Tragödien jener Menschen, die wie Hannah Arendt zu Beginn des letzten Jahrhunderts geboren wurden, schlicht zu wenig bewusst. Und zu oft fehlen uns die feinen Nuancen, die wir nicht nur in der Erinnerung, sondern auch heute brauchen würden.

Zum zweiten beeindruckten mich Hannah Arendts Überlegungen zur Entstehung, Veröffentlichung und zu den Reaktionen auf ihr bekanntestes Werk («Eichmann in Jerusalem») besonders. Ihr «Bericht über die Banalität des Bösen» (so der Untertitel des Werkes) löste Kontroversen aus, die im Nachhinein deutlich machten, dass sie in einen mehr als prall gefüllten Eitersack gestochen hatte. Ihr «Denken ohne Geländer» brachte ihr die heftigsten Reaktionen, Ablehnung, Hass und Ausgrenzung ein, weil sie bereit war, «zu denken, wo es weh tut». Und das alles dann grandios, scharfsinnig und wohl durchdacht zu veröffentlichen. Das Buch erschien 1962 im englischen Sprachraum, in der sie seit ihrer erfolgreichen Flucht aus Europa mit ihrem Ehemann lebte, und 1963 auch auf Deutsch.

Im Dienste der Protagonistin

Die Literaturprofessorin Hildegard Keller hat prägende Ausschnitte aus diesem reichen Leben in einen Roman verpackt. Ein Roman behandelt in «erzählender Prosa das Schicksal eines Einzelnen oder einer Gruppe von Menschen in ihrer Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt». Hildegard Keller, so mein Eindruck, hat die Form des Romans gewählt, weil sie die Konfrontation der Philosophin mit ihrer Zeit in besonderer Weise herausstellen kann. Die Expertin, die sich sowohl in Europa als auch in Amerika auskennt, stellt ihr eigenes, vielfach bewährtes Wissen ganz in den Dienst ihrer Protagonistin. Es ist das Buch von Hannah Arendt.

Das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Darin liegt für mich ein besonderer Reiz und Reichtum der Lektüre. Dem Buch und der Autorin, ob sie nun Hannah oder Elisabeth heisst, sind viele Leser/-innen zu wünschen. Es lohnt sich!


Autor:

Roland Gröbli, Präsident VCU RG Zürich