Spiritualität boomt – einem Modewort auf der Spur
«Spiritualität» ist zum Modewort geworden. Heute kann schon ein gemütlicher Abend vor dem Kamin mit einem Buch «spirituell» sein. Spiritualität steht für die Suche in unserer Gesellschaft nach Werten, nach persönlicher Überzeugung, Lebensführung und nach einem Zusammenhang, der die Diesseitigkeit übersteigt. An einer öffentlichen Veranstaltung der VCU Aargau/Solothurn erläuterte der Jesuitenpater Dr. Christian Rutishauser die aktuelle Entwicklung.
Spiritualität bedeutet gegenwärtig sein, nicht mit den Gedanken irgendwo, sondern im Hier und Jetzt, in dieser Stunde. Spiritualität ist die Ermächtigung und der Mut, im Augenblick die Wirklichkeit anzunehmen, wie sie auf uns zu kommt. Sie kann schön oder schrecklich sein, eine Prüfung oder ein unangenehmes Gefühl. «Ich fühle: Ich kann». Zur Spiritualität gehören Mut und innere Freiheit.
Was ist Spiritualität – drei Dimensionen
Anthropologisch ist Spiritualität die Öffnung des menschlichen Geistes auf die Transzendenz hin. «Die meisten Menschen haben sich total in der Diesseitigkeit eingeschlossen», so Rutishauser. Heutzutage geht es um den Erfolg, um die Leistung und darum, sich im Leben möglichst gut einzurichten. «Wir sind die Sklaven von unseren Versicherungssystemen», stellt Rutishauser fest.
Spiritualität ist hierbei die Sehnsucht, auszubrechen aus der Welt, in der wir uns eingerichtet haben. Eine Sehnsucht, die (ein bisschen) mehr Räume öffnet, als nur am Wochenende «echt» zu leben. Spiritualität möchte unser Denken um eine geistige Dimension bereichern. Theologisch ist Spiritualität nicht nur die Öffnung des menschlichen Geistes auf etwas Göttliches hin, sondern auch die Öffnung des göttlichen Geistes auf uns hin. Es ist eine gegenseitige Kommunikation, welche oft als inneres Wachstum und als grosse Bereicherung beschrieben wird. Biblische Spiritualität als religiöses Wort hat den Sinn, den göttlichen Geist in uns zu öffnen.
Spiritualität fällt nie einfach vom Himmel. Sie ist immer in eine Tradition eingebettet, ist geschichtlich. Sie wird vermittelt in Erzählungen, Schriften und Ritualen, welche die betreffenden Menschen mehr oder weniger stark prägen und Identität stiften. Diese Prägung scheint in modernen Gesellschaften abzunehmen oder von materiellen Werten verdrängt zu werden. Einzig die wiederkehrenden religiösen Festtage sind noch stark im kollektiven Bewusstsein verankert, obschon ihre inhaltliche Bedeutung mehr und mehr vergessen wird. Spirituell ist ein Leben, das sich bewusst für den Geist Gottes öffnet und sich von ihm prägen und durchformen lässt.
Formen der Spiritualität
Bei der einen Form der Spiritualität geht es um Rhythmen: Tages‑, Jahres- und Lebensrhythmus. Diese Form von Spiritualität macht sich fest am Alltag. Alle Religionen, aber auch Menschen, die sich als nicht religiös bezeichnen, haben Rituale und Wiederholungen, die ihr Leben prägen: Im Frühling denkt man ans Entstehen von Leben, es gibt Frühlingsfeiern, Sommersonnwende, Erntedankfeste.
Eine andere Form zeigt Innerlichkeit und mystische Vertiefung auf: Viele machen heute innerliche Erfahrungen, wenn sie sich in der Natur bewegen. Dies ist eine ganz andere Form der Spiritualität, man teilt sie nicht so leicht mit andern, sondern erlebt sie meist als persönliche und intime Erfahrung. Schliesslich gibt es die sozialkritische Spiritualität, wo Menschen, durch die Religion ermutigt, sich für gesellschaftliche Gerechtigkeit einsetzen. Rutishauser erinnert an die Gospeltradition der Schwarzen in Amerika, die gegen die Rassendiskriminierung kämpften.
Früher Kirche – heute Showbusiness
Was hat die säkulare Welt mit der Religion gemeinsam? Jede Religion ist ein System, welches Welterklärung, Ethik, eine gewisse Liturgie, Spiritualität und eine Institution liefert und damit die ganze Kultur prägt. «Die säkulare Wissenschaft macht hierbei genau das Gleiche, einfach mit anderen Mittel», erklärt Rutishauser.
Die Evolutionslehre und Naturwissenschaft ersetzt zum Beispiel die ganze Welterklärung wie Schöpfung, Offenbarung, Erlösung. Im Bereich Ethik gibt es die Werte, Normen und Menschenrechte. Ebenso gibt es in der säkularen Welt Nationalfeiertage oder Events wie die Olympiade und den Eurovision Song Contest, welche heute die Liturgie ersetzen. Rutishauser spricht in diesem Fall von Conchita Wurst, welche im Showbusiness als Jesus in Erleuchtung auftritt. «Was der Mensch früher in der Kirche gesucht hat, findet er heute im Showbusiness», sagt Rutishauser, der auch über die heutige Internetsucht spricht: «Ein Grossteil der Sucht hängt nicht vom Inhalt ab, sondern vom Lichtaufschein auf dem Screen, welcher für eine klassische, archaische Form von Erleuchtung steht. Das ist bei der säkularen Gesellschaft Liturgie.» Heute geht der Mensch nicht mehr zum Beichtstuhl, sondern zum Psychiater oder zum spirituellen Coach.
Spiritualität in Unternehmen
Die Kunst, Spiritualität im Unternehmen einzubauen, liegt darin, «Räume» zu schaffen, die zu einer intuitiveren und breiteren Wahrnehmung führen «Als Führungsleiter ist es wichtig, dem Team jeden Tag diesen Raum von 2–3 Minuten zu geben, um einen Augenblick der Stille wahrzunehmen und sich gemeinsam innerlich zu öffnen. Jeder einzelne Mitarbeiter soll sich dabei bewusst werden, welche Sachgeschäfte und damit verbundene Konflikte anstehen und wie man sich als Team gemeinsam ausrichtet», erklärt Rutishauser, der viele Management-Coachings leitet. So kann man dies, was in einer Erleuchtungsform ganz gross formuliert wird, in kleinen Schritten im täglichen Alltag einbauen. Viele Führungskräfte wünschen sich zusätzlich mehr Ausstrahlung in ihrer Rolle und kommen dabei auch auf die Spiritualität zurück. Mystische Erfahrungen sind der beste Katalysator von Persönlichkeitsbildung. «Eine Persönlichkeit aber entsteht mit Übung; man muss in seinem Innern Raum geben für den spirituellen Geist. So entsteht eine Persönlichkeit, die ihnen eine Autorität und eine Ausstrahlung gibt, mit der Sie Ihr Geschäft garantiert besser führen.»
Respekt, Fairness, Verantwortung
Mit Anlässen zu aktuellen Themen fördert die Vereinigung christlicher Unternehmer VCU den Erfahrungs- und Meinungsaustausch unter den Mitgliedern sowie mit Fachleuten und interessierten Gästen. Hauptfokus ist laut VCU-Präsident Max Zeier dabei das «Wirtschaften mit Werten». Ziel der Vereinigung ist es, ihren Mitgliedern unternehmerische, gesellschaftliche und ethische Impulse zu vermitteln und ihre Verantwortung im Umgang mit Gesellschaft und der Welt wahrzunehmen. Dies ganz nach dem Motto: «Respekt – Fairness – Verantwortung».
Autoren:
Louis Dreyer/Laura Blattner, MACH AG, Baden



