Plädoyer für eine offene Debattenkultur

Plädoyer für eine offene Debattenkultur

Plä­doy­er für eine offene Debattenkultur

Nach dem Nieder­gang des Kom­mu­nis­mus um 1990 wäre es kaum jeman­den in den Sinn gekom­men, dass rund zwanzig bis dreißig Jahre später die Rede­frei­heit und mit ihr eine lebendi­ge Debat­tenkul­tur in Nor­dameri­ka und Europa in so arge Bedräng­nis ger­at­en wür­den. Die Bedro­hung kommt aus zwei Rich­tun­gen: Ein­er­seits fördern die mod­er­nen Kom­mu­nika­tion­s­möglichkeit­en auf­grund ihrer ver­meintlichen oder tat­säch­lichen Anonymität belei­di­gende und has­ser­füllte Kom­mentare, die keinen Beitrag zu ein­er sach­lichen Auseinan­der­set­zung mit unter­schiedlichen Posi­tio­nen leis­ten. Ander­er­seits ver­suchen gesellschaftliche Grup­pierun­gen, ihre Moral den anderen Gesellschaftsmit­gliedern aufzuok­troyieren, indem sie bes­timmte Sprachregelun­gen durch­set­zen sowie The­men- und Hand­lungs­felder als «poli­tisch kor­rekt» fes­tle­gen bzw. als «poli­tisch unko­r­rekt» auss­chließen wollen.

Der so harm­los wirk­ende Begriff der «poli­tis­chen Kor­rek­theit» hat ein hohes Radikalisierungspo­ten­tial: Er fordert ja nicht ein­fach das ein, was die meis­ten Men­schen als kor­rek­tes Benehmen ver­ste­hen, son­dern er drückt ein über­steigertes Ver­ständ­nis von Kor­rek­theit aus, das eine Einen­gung oder sog­ar eine Auss­chal­tung der Mei­n­ungs­frei­heit bewirken kann. Das führt in Poli­tik, Wirtschaft, Wis­senschaft, Kul­tur und Medi­en immer häu­figer dazu, dass Men­schen, die vom Main­stream abwe­ichende Mei­n­un­gen vertreten, an Auftrit­ten und Pub­lika­tio­nen gehin­dert wer­den. Organ­i­sa­tio­nen und Unternehmen, die solche Per­so­n­en unter­stützen, wer­den für ihre «falsche Gesin­nung» getadelt, durch Boykot­taufrufe und den Entzug von Aufträ­gen eingeschüchtert und genötigt, sich von diesen Per­so­n­en zu distanzieren.

Diese irri­tieren­den Fälle lassen sich nicht mit einem an und für sich gut gemein­ten Engage­ment von Per­so­n­en und Grup­pierun­gen für eine zivil­isierte Aus­druck­sweise und die Ver­mei­dung von «hate­speech» abtun. Dahin­ter steckt mehr: Diese Kreise sind von ein­er Ide­olo­gie erfüllt, die auf ein­er von biol­o­gisch-wis­senschaftlichen Erken­nt­nis­sen los­gelösten Anthro­polo­gie (Stich­wort: Gen­der Main­stream­ing und die beliebige Kon­struk­tion­s­möglichkeit von Geschlechtern und Geschlecht­si­den­titäten) und ein­er Ablehnung des abendländis­chen (und damit zum großen Teil christlich geprägten) Kul­turver­ständ­niss­es basiert. Sie prak­tizieren eine Iden­titäts- bzw. Kul­tur­poli­tik mit definierten Täter- und Opfer­grup­pen und entsprechen­den Verge­hen: Sex­is­mus (Män­ner gegenüber Frauen), Homo- bzw. Trans­pho­bie (Het­ero­sex­uelle gegenüber Homo- und Trans­sex­uellen), Ras­sis­mus (Weiße gegenüber Far­bigen), Frem­den­feindlichkeit (Ein­heimis­che gegenüber Migranten), Kolo­nial­is­mus (Nachkom­men von Kolo­nialmächt­en oder über­haupt Men­schen der west­lichen Welt gegenüber Nachkom­men ehe­ma­liger Kolonien und Men­schen aus Entwick­lungslän­dern) usw.

Zwar wer­den anfangs nur bes­timmte Teil­bere­iche der Gesellschaft in den Fokus genom­men, let­ztlich ste­ht aber die ganze Gesellschaft unter Diskri­m­inierungsver­dacht. Darin zeigt sich ein Para­dox­on dieser Grup­pierun­gen: Sie fordern zwar in einem bes­timmten Bere­ich vehe­ment die Akzep­tanz der Diver­sität der Men­schen, etwa bei der sex­uellen Ori­en­tierung. Sobald sich aber außer­halb dieses Bere­ich­es Diver­sität äußert, z.B. in weniger ökol­o­gis­chen Lebensstilen, in unternehmerischen Tätigkeit­en und vor allem in der Pos­tulierung ander­er Auf­fas­sun­gen etwa zur Mark­twirtschaft oder zum Lebenss­chutz, lehnen sie diese ab und ver­suchen, sie mit dem Stem­pel der «Unmoral­ität» zum Ver­s­tum­men zu brin­gen. Sie gehen nicht von der Ver­schiedenar­tigkeit der Men­schen, ihrer Lebensen­twürfe und Leben­sum­stände aus, son­dern von der Gle­ich­heit. «Inklu­sion» wird nur solange als Forderung aufrechter­hal­ten, solange es sich um eigene Inter­essen han­delt und man aus ein­er Min­der­heit­spo­si­tion her­aus agiert. In ein­er Mehrheit­spo­si­tion oder in gle­ichgeschal­teten Gesellschaften muss nichts mehr eingegliedert werden.

Heute ist der Ein­satz aller, auch der Führungskräfte in den Unternehmen, gefragt, damit wir und eine lebendi­ge, für Kon­tro­ver­sen offene Debat­tenkul­tur erhal­ten kön­nen. Es geht nicht um links oder rechts, kon­ser­v­a­tiv oder pro­gres­siv, moralisch «richtig» oder «falsch», son­dern allein um die in ein­er Demokratie nötige Möglichkeit, seine Mei­n­ung frei vor­tra­gen zu kön­nen. Die zukun­ft­sof­fene Gesellschaft lebt von der Lust an der Auseinan­der­set­zung, in der es um das bessere Argu­ment und nicht um die ver­meintlich edlere Gesin­nung geht.

 

Stephan Wirz, geb. 11.9.1959,  wuchs als Aus­land­schweiz­er in Deutsch­land, Öster­re­ich und den Nieder­lan­den auf. Er studierte The­olo­gie, Poli­tis­che Wis­senschaften, Nation­alökonomie und Völk­er­recht in München. Nach knapp drei Jahren im Gen­er­alsekre­tari­at und bei Pub­lic Affairs bei der SKA in Zürich Ende der achtziger Jahre dok­to­ri­erte er 1992 in München zum Dr. the­ol. Von 1992 bis 1997 war er bei ABB in Baden im Bere­ich Pub­lic Rela­tions tätig. Von 1997 bis 2002 war er Dozent für Ethik und Leit­er Ver­anstal­tun­gen bei der Fach­hochschule Aar­gau, später Nord­westschweiz. Anschliessend wid­mete er sich sein­er Habil­i­ta­tion­ss­chrift zu Erfolg und Moral in der Unternehmensführung. 2007 erhielt er von der Uni­ver­sität Luzern die venia leg­en­di (Pri­vat­dozent). 2012 wurde er zum Tit­u­larpro­fes­sor der Uni­ver­sität Luzern gewählt. 2007 bis April 2020 leit­ete er bei der Paulus Akademie in Zürich den Bere­ich Wirtschaft. Let­ztes Jahr gab er mit Ger­hard Schwarz das Buch «Reden und reden lassen» (bei NZZ Libro) her­aus.   

Autor:

Prof. Dr. Stephan Wirz, Mit­glied VCU, RG AG/SO