19.11.2024 | Basel
Am 19. November 2024 hielt Philipp Sterzer, Professor für Translationale Psychiatrie an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, einen faszinierenden Vortrag über die Mechanismen unseres Denkens und die Entstehung von Wahrnehmungen und Überzeugungen. Seine Ausführungen machten deutlich, dass vieles von dem, was wir als objektive Realität betrachten, in Wirklichkeit stark von unseren Annahmen, Erfahrungen und Denkmustern geprägt wird.
Einblicke in unser Denken
Unsere Urteile und Entscheidungen sind oft weniger objektiv, als wir annehmen. Prof. Sterzer verdeutlichte: „Wir halten uns für rational, doch oft sind wir es nicht.“ Untersuchungen zeigen, dass 85 % der Menschen glauben, weniger von Denkfehlern betroffen zu sein als andere – was selbst ein typischer Denkfehler ist: die sogenannte „Verzerrungsblindheit“.
Beispiele wie der Bestätigungsfehler (wir suchen bevorzugte Informationen, die unsere Meinung bestätigen) oder der „Better-than-Average-Effekt“ (wir überschätzen oft unsere Fähigkeiten im Vergleich zu anderen) zeigen, wie unser Denken uns täuschen kann. Solche Denkfehler verzerren unsere Wahrnehmung, ohne dass wir es merken – ein grundlegender Mechanismus, mit dem unser Gehirn arbeitet.
Wahrnehmung: Eine Realität voller Vermutungen
Unsere Wahrnehmung basiert auf einem Zusammenspiel von Sinnesdaten (bottom-up) und Vorannahmen (top-down). Dieses Prinzip der Inferenz lässt unser Gehirn „Vermutungen“ über die Realität anstellen. Statt einer objektiven Wahrheit erleben wir eine „Fantasie im Einklang mit der Realität“.
Sterzer erklärte, wie unser Gehirn Lücken mit Erwartungen füllt und warum unsere Sinne uns keine perfekte Wahrheit liefern, sondern ein „Bild“, das unser Gehirn interpretiert. Diese Mechanismen machen uns effizient in alltäglichen Entscheidungen, lassen uns aber auch anfällig für Fehleinschätzungen werden.
Von Denkfehlern bis zu Wahnvorstellungen
Während Denkverzerrungen alltäglich sind, bleiben Wahnvorstellungen unbeweglich gegenüber neuen Fakten – selbst wenn alle Beweise dagegen sprechen. Irrationale Überzeugungen gehören zum Menschsein dazu. Entscheidend ist jedoch, ob wir bereit sind, uns von falschen Überzeugungen zu lösen.
Sterzer beleuchtete auch Verschwörungstheorien, die durch das Bedürfnis nach einfachen Erklärungen für komplexe Zusammenhänge entstehen. Solche Überzeugungen können Gemeinschaften verbinden, während Wahnvorstellungen meist individuell sind.
Die Botschaft: Bewusstes Hinterfragen als Schlüssel
Professor Sterzer schloss mit einer ermutigenden Botschaft: Unsere Neigung zu Denkfehlern ist keine Schwäche, sondern ein evolutionäres Überbleibsel, das schnelle Entscheidungen ermöglicht. Dennoch können wir lernen, bewusster und kritischer zu handeln, indem wir unsere Denkmechanismen verstehen.
Prof. Philipp Sterzer, Chefarzt des Zentrums für Diagnostik und Krisenintervention (ZDK)
Prof. Dr. Philipp Sterzer, Professor für Translationale Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät der Universität Basel und Chefarzt des Zentrums für Diagnostik und Krisenintervention (ZDK). Er forscht auf dem Gebiet der kognitiven Neurowissenschaften und befasst sich mit psychischen Störungen wie Schizophrenie.
Das Bestreben der Translationalen Psychiatrie ist, die Erkenntnisse aus der Forschung in den Klinik-Alltag und in die Patientenversorgung zu integrieren und umgekehrt Fragestellungen aus der Praxis in die Forschung einzubeziehen.
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Philipp Sterzer
«Wieso glauben Sie, dass Sie recht haben?
Wir sind alle ein bisschen verrückt. Nicht nur die Menschen, die psychisch krank sind, sondern wir alle sind irrational. Der Neurologe, Psychiater und Hirnforscher Philipp Sterzer erklärt, warum das so ist und welche Schlüsse wir daraus ziehen können. Ein neuer Blick auf subjektives Erleben, soziales Bewusstsein und die Wahrnehmung der Welt.»